35 Begrüssungen, Kurzgeschichte
35 Begrüssungen Die Menschen werden essen, auch in Zukunft. Sie werden Äpfel kaufen und Landjäger im Viererpack. Nur vielleicht nicht dort, wo sie das bisher getan haben. Sie könnten sich entscheiden, ihre Gewohnheiten zu brechen. Um die Konsequenzen jeder denkbaren Entwicklung abzufedern, beschlossen die Lebensmittelverteiler, artfremde Angebote zu machen. Das half auch, um das Unternehmen in die Gesellschaft einzupassen, es zu einer familiären Konstante zu formen. Neben den Esswaren und den Getränken werden Haushaltsgegenstände verkauft, Pflegemittel und Gelegenheitswaren, manchmal sogar Kleider. Dazu gibt es Vorhallen mit Blumen, markeneigene Banken und Geschäfte für Handwerkerbedarf. Wenn man darüber nachdenkt, ist ein Lebensmittelgeschäft sehr gierig oder sehr kundenfreundlich. Die Bildung wird ebenfalls berücksichtigt: Es gibt eine Klubschule, eine Sammlung von Kursen, vornehmlich für Erwachsene und für alle Bereiche des Lebens. An diesem Dienstag, um 17:00 Uhr im Raum 1.01, wird Frau Matic acht Personen empfangen, um ihnen zu zeigen, wie man besser massiert. In der Ausschreibung stand, dass es Körper braucht, an welchen geübt werden kann. Da ihr Herr Mühlbach gesagt hat, dass sich zwar die meisten Menschen gerne massieren liessen, dieses Wohlgefühl mit der steigenden Anzahl beobachtender Augen aber abnahm, hatte sich Frau Matic darauf eingestellt, sich selbst hinlegen zu müssen. Ausserdem hatte sie die Liste mit den Namen und dem Alter der Teilnehmer angeschaut. Nur zwei Nachnamen waren gleich, ein Ehepaar wahrscheinlich, weil der Mann bloss ein Jahr älter war. Frau Matic ging um 16:00 Uhr in den Kursraum, rückte ein paar Stühle gerade und prüfte, ob der Beamer das Bild auf ihrem Computer übertrug, danach blieben ihr fünfundvierzig Minuten. Der Erste, der reinkam, war Martin, zwanzig Minuten zu früh und zweiunddreissig Jahre nach seiner Geburt. Er klopfte nicht an, weil die Tür angelegt war und wirkte, als bereute er das sofort, als er Frau Matic sah. Sie winkte kurz und lächelte. Sie schüttelten sich die Hände, dann setzte sich Martin hin und öffnete seinen Rucksack, um darin herumzukramen. Auch Frau Matic war noch etwas eingefallen: Sie verteilte Stifte und Papier mit einer dünnen Unterlage aus Holz. Dann hatten beide erledigt, was sie erledigen wollten und beide genug Zeit gehabt, um etwas fragen zu können. Frau Matic allerdings war schneller, wahrscheinlich, weil ihr Naturell das begünstigte, also erklärte Martin, dass er sich in seinem Sportverein engagieren wolle - und zwar als Physio der ersten Damenmannschaft. Er kenne sich mit Medikamenten und Verbänden aus, weil er seit einem halben Jahr als Rettungssanitäter arbeite und wolle seine bestehenden Kenntnisse ausweiten, um auch Verspannungen richtig behandeln zu können. Das Gespräch kam in Fahrt und dann traten Herr und Frau Linder ein, das mutmassliche Ehepaar, und Frau Matic musste sie begrüssen. Als das geschehen war, trat Herr Linder zu Martin und streckte ihm die Hand entgegen. Auf seinem Gesicht hockte ein Grinsen. Martin sagte Martin und schüttelte Frau Linder erst die Hand, als diese eine halbe Minute hinter ihrem Gatten gewartet hatte, der frischfröhlich von seinem Leben erzählte und wieso es ihn hierher geführt hatte. In diesem Moment trat ein weiteres Paar ein, denn dass sie ein Paar waren, war nicht zu übersehen. Sie trugen dieselben Kleider, die auf skurrile Weise ans jeweilige Geschlecht angepasst waren, so als hätten sie einer Schneiderin zwei gleiche Hemden, zwei gleiche Hosen und den Auftrag gegeben, lediglich ihre Brust-, Bauch und Hüftumfänge zu berücksichtigen. Frau Matic nahm an, dass es sich bei diesem Paar um Maria Sotkina und Gori Kopow handelte und lag richtig. Sie lösten die Verankerung ihrer Arme nicht, um den anwesenden Kursteilnehmern die Hände zu geben. Als sie sich gerade setzen wollten, sprang Herr Linder auf und streckte ihnen die Hand entgegen, freute sich sichtlich und stellte seine Frau vor und dann Martin - und zwar als der gute Martin. Dann setzten sich alle hin und betrachteten die erste Folie der Präsentation auf der Leinwand. Dort stand: Massage Einführungskurs. In der Fusszeile stand das Logo des Lebensmittelverteilers. Als drei Minuten vergangen waren, die Stille nur vom Getuschel gebrochen, dass zwischen Sotkina und Kopow getauscht wurde, sagte Frau Matic, dass es jetzt zwei Minuten nach fünf war, sie eigentlich beginnen müssten und fragte, ob sie noch warten wollten. Alle nickten und kurz darauf stürmte eine junge Frau in den Raum, rief Hallo und begann - etwas ausser Atem - zu erklären, dass die beiden anderen sofort kommen würden, aber nicht mehr so schnell laufen könnten wie sie und die anderen beiden seien Karl Guggenbühl und Lisa Motherrey. Frau Matic sagte, dass sei kein Problem und die junge Frau fuhr fort: Sie sei zu Fuss hergekommen und habe die Strecke etwas unterschätzt, sei darum knapp dran gewesen und etwas gerannt. Da hatte ein Auto angehalten und der Fahrer, Herr Guggenbühl, gefragt, ob sie auch zum Massagekurs müsse, und sie natürlich ja und wieso würden sie das wissen, als sie sich auf die Rückbank gesetzt hatte. Frau Motherrey habe dann geantwortet, dass sie das schlicht vermutet und sie auch ein Stück mitgenommen hätten, wenn sie an einen anderen Ort hätte pressieren müssen. Die Beiden seien schon ein bisschen älter, wahrscheinlich fast siebzig und würden darum nicht mehr rennen, auch wenn sie zu spät waren, sie solle sie entschuldigen. Frau Matic wiederholte, dass das kein Problem sei und bot an, dass sie sich setzen möge. Das tat sie dann auch - und zwar auf den Stuhl neben dem russischstämmigen Paar. Sie gab ihnen die Hand, für Herrn Kopow musste sie sich ein bisschen strecken. In der Zwischenzeit war Herr Linder aufgestanden, mit ihm seine Frau. Auch sie begrüssten die junge Frau. Wie heissen Sie denn, fragte Herr Linder und sie antwortete, ihr Name sei Miriam, nannte sich aber Milly. Martin blieb sitzen. Frau Matic verliess den Raum, um den fehlenden Teilnehmern entgegenzulaufen und konnte behilflich sein, Herr Guggenbühl hatte nämlich etwas Mühe mit dem Treppensteigen. Als sie zu dritt in den Raum zurückkehrten, stand Herr Linder neben der Tür und begrüsste die beiden Ankömmlinge mit grossem Elan. Er schien sie aus alten Zeiten zu kennen, erzählte von den Pferden auf dem Chasseral und den Farben ihres Fells, doch das war, wie Herr Guggenbühl in der Pause Frau Matic verriet, nicht der Fall, er habe Herr Linder noch nie gesehen. Bei gleicher Gelegenheit erzählte er, dass Lisa und er beide aus einer gescheiterten Ehe kämen und sich genau drei Jahre nach den jeweiligen Scheidungen kennengelernt hätten. Lustig, nicht? Sie begrüssten in folgender Reihenfolge Frau Linder, Martin, Herr Kopow, Frau Sotkina und setzen sich schliesslich neben Milly hin. 35 Begrüssungen waren erfolgt.
2. Mai 2020